Manfred Gries

23Tage bis Weihnachten

Ein Monat im Jahr, an dem jeder Tag ein besonderer Tag ist, beginnt alljährlich zur gleichen Zeit. Zwar sind die Wochentage immer wieder andere, aber dafür hat auch jedes Jahr seine eigenen Geschichten geschrieben, über die wir schmunzeln oder trauern, lachen oder weinen. Kinder wurden geboren und liebe Menschen gingen, Kriege brachen aus und Frieden wurde geschlossen. Manch einer hat zwischen Geburt und Tod einen lieben Freund gewonnen und diese Welt bereichert mit geschenktem Vertrauen und bewundernswertem Einsatz für die weniger bedeutungsvollen Lebensstimmungen, die Alltag wurden, ohne großartig in den Medien bemerkt zu werden. Zugegeben, Leid ist in unserer Gesellschaft ein schwieriges Thema. Denken wir doch gleichzeitig über Schuld nach, Eigenverantwortung für erfahrenes Leid und Bestrafung, die das Leben bringt. Je größer die Entfernung zwischen dem Betrachter und dem Leidenden ist, desto eher besteht die Chance, dass uns sein Schicksal berührt. Entfernung meint dabei nicht zwangsläufig “räumliche“ Entfernung. Auch “emotionaler“ Abstand kann uns rühren. Schließlich ist unser Leben ja “in Ordnung“, weil wir es ganz gut “im Griff“ haben. Gespart ein Leben lang, ordentlich gearbeitet, unseren Kindern “das Beste“ gegeben und immer freundlich gewesen. Sicher, nicht jeder ist so perfekt wie wir, aber mit Abstand betrachtet, gibt es gute Gründe, dass die Menschen so verschieden sind. So verschieden wie...

Oma Wilhelmine und Nachbars Klara

Die Katze schnurrte freundlich in der Küche und Wilhelmine füllte kleine Untertassen mit Fleisch und Gemüse, etwas Petersilie aus der Werbung dazu. Muschi, Klaras Katze, kam seit einigen Monaten täglich vorbei, um sich ihr Abendessen abzuholen und Wilhelmines Hand auf ihrem Fell zu spüren. Sie schnurrte dabei laut und vernehmlich und gab ihrer Gönnerin das Gefühl, etwas Gutes zu tun. Wilhelmine konnte das, hatte sie doch ihr Leben lang für die Altersversorgung gearbeitet. So konnte sie auch heute teilen, was sie entbehren konnte. Und sie tat es gern.
Klara wartete derweil vergebens auf Muschis Erscheinen. Sie erinnerte sich an die guten Jahre, als die kleinen Untertassen in ihrer Küche abends das streunende Raubtier beköstigt hatten und ihre Hand jenes Gefühl erleben durfte, das nun in einer anderen Küche einem anderen Gönner widerfuhr. Die Rente war dieses Jahr wieder nicht erhöht worden und trotz harter Arbeit - sie hatte 5 Kinder groß gezogen - war nicht viel übrig, was sie hätte teilen können. Das hatte wohl auch Muschi bemerkt und so ihre Konsequenzen gezogen. Genauso wie Klaras Kinder, die selbst kaum die Butter auf dem Brot aufbringen konnten. Kredite für das kleine Eigenheim forderten ihren Tribut - ja, Klaras Kinder hatten es zu etwas gebracht. Sie waren allesamt Besitzer eines kleinen Eigenheimes geworden, denn auch sie waren fleißig, arbeiteten für ihre Altersversorgung. Und Klara schaute auf die Untertassen, die sie trotz alledem Abends in ihrer Küche aufstellte.

Es war wohl einer jener Dezemberabende, wahrscheinlich sogar der 1. Dezember, der heuer auf einen Sonntag fiel. Wilhelmine, ebenfalls Mutter von nur 4 Kindern, schaute Muschi zu, die um die kleinen Untertassen herumschlich. An diesem Abend erfüllte ein merkwürdiges Geräusch die Küche. Muschi schnurrte in einer anderen Tonlage, schien sich auch nicht für die Leckerbissen zu interessieren. Da erwachte Oma Wilhelmines Kampfgeist, der sie all ihr Leben lang begleitet hatte. Sie wollte herausfinden, was dieses Raubtier im Schilde führte. So nahm sie eine Untertasse und stellte sie vor die Tür - Muschi folgte ihr, ließ aber das geteilte Leben unberührt. Es war frisch an diesem Dezeberabend und Wilhelmine zog sich ihren Mantel über, den sie sich vor 10 Jahren gekauft hatte. Im Alter wachsen Menschen nicht mehr aus ihren Mänteln heraus, sie schrumpfen hinein. Erst den linken Ärmel, dann den rechten - früher hatte ihr Mann ihr dabei geholfen - so bewegte sie sich gleichzeitig auf die Tür zu und trug die dort von Muschi umschlichene Untertasse zum Nachbarhaus, um das seltsame Verhalten der Katze mit Klara zu besprechen.

Klara öffnete freundlich die Tür, verwundert über die beiden Gäste und die Untertasse, die den Untertassen in ihrer Küche glich. Muschi schnurrte den beiden alten Damen um die Füße herum. Und während Klara und Wilhelmine am Küchentisch Platz nahmen - die Untertasse hatte sich zu ihren Schwestern gesellt - begann die Katze zu fressen. Denn das Raubtier war hungrig. Die beiden schauten schweigend dem Schauspiel zu, das sie nicht verstanden. Zu reden gab es an diesem Abend nichts - aber zu verstehen einiges. Es war der erste Dezember, noch 23 Tage bis Heiligabend.

Die Geschichte stellt einen Auszug aus meinen Weihnachtsgeschichten dar, die im Adventskalender dieses Jhr veröffenticht werden sollen auf: http://www.unserkaminzimmer.deManfred Gries, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.10.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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