Manfred Gries

Schneeflockenbäckerei

“Keine Schneeflocke ist wie die andere, jede hat ihre besondere Form“, pflegte Wilhelmine immer zu sagen, wenn der kleine Junge gebannt auf das weiße Treiben vor dem Fenster schaute. “Das liegt daran, dass jede Flocke von einem Menschen im Himmel für einen Menschen auf der Erde gemacht wurde. Opas Flocken erkenne ich immer an dem besonderen Glanz, den keine anderen Flocken haben. Und diesen Glanz kann nur ich sehen.“

Diese Zeit ist lange her und heute ist der Junge groß, schaut auf die Schneeflocken und ordnet die besonders glänzenden einem lieben Menschen zu, der ihm zu Weihnachten eine Schneeflocke schenkt. Das ist eine spannende Sache. Man muss schon genau hinschauen, um Oma Wilhelmines Flocken von denen zu unterscheiden, die der Vater, die Frau, die Freunde “gebacken“ haben. Denn sie strahlen alle besonders, aber unterschiedlich. Nur durch die Erinnerung lässt sich der Unterschied feststellen. “Eigentlich sind Schneeflocken den Sternen nachgebildet“, so setzte Wilhelmine damals ihre Erklärungen fort. “Nur sind die Sterne immer da, um uns zu erinnern, die Schneeflocken aber nur für einen Moment.“ So sitzt der große Junge alle Jahre wieder vor dem Fenster und schaut, schaut mit den Augen der Erinnerung in die weiße Pracht der unzähligen Flocken vor seinem Fenster.

“Hin und wieder kann man auch Flocken entdecken, die strahlen, aber nicht zur eigenen Erinnerung gehören. Das sind die Flocken, die für Menschen in unserer Nähe gebacken wurden, Menschen auf der Erde, die wir mögen.“ Wilhelmine schmunzelte immer, wenn sie davon sprach. Kannte sie den kleinen Traumtänzer doch nur zu gut.

An einem besonderen Abend im Dezember saß er zusammen mit seiner Freundin in der warmen Stube. Die Kerzen tauchten den Raum in sanftes Licht und es roch nach Nüssen und Äpfeln, die sie für die Kinder auf kleinen Tellern zubereitet hatte. Draußen begann es zu schneien und die Laterne auf dem Hof beleuchtete kleine Schneeflocken, die vom Himmel fielen. “Lass uns Schneeflocken schauen gehen“, sagte er und öffnete die Haustür. Unter dem kleinen Vordach beobachteten sie das Geschehen unter der Laterne. Schnell erkannte er die Flocken Wilhelmines und die seiner verstorbenen Frau. Erinnerungen tanzten auf den kleinen, hellen Blitzen, die lustig im Licht Geschichten erzählten. Einige Blitze konnte er nicht zuordnen, wohl deswegen, weil sie nicht zu seinem Leben gehörten. Vorsichtig suchte sein Blick den Blick der Freundin zu erhaschen. Wer wohl hinter diesen Flocken stecken mochte? Erstaunlicherweise schauten ihre Augen traurig in die Abendstimmung, obwohl doch die Nüsse und Äpfel eher andere Empfindungen hervorrufen sollten. “Und wenn die Menschen, die wir mögen, traurig auf die Flocken schauen, dann sind die Erinnerungen Ausdruck einer tiefen Sehnsucht.“ Wilhelmines Worte klangen in seinem Ohr. Er konnte die Sehnsucht in ihren Augen lesen. Scheinbar gab es in der Schneeflockenbäckerei Menschen, die sie nie kennen lernen konnte, die aber trotzdem zu ihr gehörten und an diesem Abend an sie dachten.

Es war Jahre her, Exstenzängste bestimmten ihr Leben und die Geburt eines Kindes stand vor der Tür. Zweifel lagen auf ihrer Seele. Was würde das Kind in dieser Welt zu erwarten haben? Immerhin waren schon 3 Kinder zu versorgen und das Geld war knapp. Konnte sie ihrem Kind derlei Verhältnisse zumuten? Oder war es nicht besser, es würde erst gar nicht geboren? Nach dem Krankenhausaufenthalt geriet alles in Vergessenheit. Eine hohe Mauer trennte sie von ihrer Entscheidung und nahm ein kleines Stück Menschlichkeit aus ihrem Leben. Und eben dieses Stück Menschlichkeit schenkte ihr an diesem Abend Schneeflocken, denn in der Schneeflockenbäckerei macht man keinen Unterschied zwischen dem 1. und dem 3. Monat der Schwangerschaft. Hier dürfen alle mitbacken und die Menschen beschenken, die sie lieben. Es gibt dort auch keinen Zorn. Und so schaute die Traurigkeit in ihrem Augen über jene Mauer, die damals errichtet wurde.

“Schneeflocken sind Boten der Liebe. Sie bringen Vergebung in unser Leben.“ Wilhelmine lächelte. Sie musste es wissen. Denn kein Leben ist so gradlinig, dass nicht irgendetwas passieren könnte, dass die Liebsten verletzt. Aber wenn die Geschenke aus der Schneeflockenbäckerei in unserer Erinnerung tanzen, dann dürfen wir Frieden schließen, weil die Liebsten dort sind, wo Frieden als Zutat zum Backen genutzt wird.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.11.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Mit dem Schreiben und Dichten, ist das so eine Sache.So war ich oft der Meinung, nur lyrisch Schreiben zu können, falls ich mich in einem annähernd, seelischen Gleichgewicht befände, erkannte aber bald die Unrichtigkeit dieser Hypothese.Wichtig allein, war der Mut des Eintauchens.Das Eins werden mit dem kollektiven Fluss des Ganzen. Meine Gedanken, zärtlich zu Papier gebrachten Gefühle,schöpfte ich stets aus diesem Fluss.

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