Manfred Gries

5 Tage vor Weihnachten - Eine Engelsgeschichte

Da spielte sich so viel in diesem Kopf ab, das zwar zu verstehen, aber nicht zu diskutieren war. Zu langsam arbeitete ihre Auffassungsgabe, sodass man nie wissen konnte, in welchen Teil ihrer Vergangenheit sie sich gerade bewegte. “Manchmal wünschte ich mir, mein Ex hätte ein wenig von deiner Wärme“ - ja, so war das damals im Advent. Damals, als mein Sohn ihr jenen Engel schenkte, den er auf einem Weihnachtsmarkt erworben hatte von seinem Taschengeld.

Und eben dieser Engel begleitete uns auf der Rückfahrt aus dem Dorf, in dem sich alles ereignet hatte. Der Hund lag friedlich zu Füssen des Beifahrers, als unser Wagen sich mit hoher Geschwindigkeit der Ausfahrt Hammelburg näherte - irgend so ein Dorf, dass dem Wehrdienstleistenden eher bekannt ist, als dem Kriegsdienstverweigerer. Die lang gestreckte Kurve öffnete sich vor meinen Augen - der Hund und die Kinder schliefen - und wider Erwarten erschien ein Stauende vor unserer Kühlerhaube. Der Verkehrsfunk hatte sich darüber ausgeschwiegen - vielleicht, weil es nur für eine kurze Weile bestand. Gerade solange, wie wir uns darauf zu bewegten. Dreispurig türmten sich Autohecks vor uns auf und eine Vollbremsung schien kaum möglich zu sein. Mit 200 KM / Stunde suchte mein Fuß das Bremspedal - meine Augen einen Weg durch die Blechlawine. Die Rücklichter eines BMW zwangen mich zu reagieren. Wie eine Billardkugel schoss unser Wagen auf die Leitplanke zu, um mit 120 KM / Stunde von dort abzuprallen und zwischen den Fahrzeugen hindurch am rechten Straßenrand zum Stehen zu kommen. Erinnern konnte ich mich an nichts als die Bremslichter des BMW, als ich dort mit Kindern und Hund unserem Wagen entstieg. Der Stau löste sich auf und die mit dem Handy herbeigerufene Polizei sicherte die Unfallstelle. Etwas schlaftrunken schauten die Kinder auf den Totalschaden, den die Leitplanke hinterlassen hatte. Es war 22:00 Uhr, eine Zeit, zu der normale Menschen schlafen.

Mein erster Gedanke suchte die Menschen, die uns nahe standen. Ich rief die Besitzerin des Engels an, die mein Sohn beschenkt hatte. “Du zwingst mich, mich anzukleiden und euch zu helfen“, erwiderte sie. Sie, die in ihrem Leben vielen Menschen geholfen und nie einen entsprechenden Dank bekommen hatte. “Nein, mach dir keine Gedanken. Wir sind wohl auf. Aber ich kenne die Telefonnummer meines Freundes nicht. Könntest du versuchen, ihn anzurufen, damit uns jemand nach Hause bringt“, antwortete ich. Das “Ja“ klang erleichtert. Aber mein Freund war nicht zu erreichen. Also nutzten wir die abgeschlossenen Versicherungen und fanden Herberge in einem kleinen Hotel. Der Hund, die Kinder und ich nahmen ein Nachtmahl ein und meine Mutter sorgte für den Leihwagen, der uns am folgenden Tag zurückbringen sollte. Mütter sorgen für ihre Kinder.

Eine Weile später, zwischen den Jahren, saß ich in jenem Wohnzimmer, das wir am Unfallabend verlassen hatten. Die Engelbesitzerin war angekleidet und der Engel schmückte den Tannenbaum, der zu Heiligabend ihrer Familie Weihnachtsfreuden geschenkt hatte. “Dass dein Sohn mir den Engel geschenkt hat, hat mich sehr betroffen gemacht. Ich fühlte plötzlich Verantwortung.“ Verständnisvoll lächelte ich sie an. Engel können auch nur dann helfen, wenn wir ihre Hilfe annehmen. Hammelburg ist seitdem für uns ein Ort, an dem kleine braune Augen Geschenke verteilen, die den Menschen zeigen, dass es noch Wunder gibt. Wunder, die zu Weihnachten geschehen. Die Verantwortung ist eh keine Sache, die verschenkt wird. Sie ist uns Menschen gegeben, damit wir Wunder erkennen können, während wir erleichtert in unser Leben zurückgleiten. Ich liebe den kleinen Engelbringer und seinen Bruder, mein Leben und den Hund. Und ich danke Gott, dass Weihnachten mit Verantwortung nichts zu tun hat - nur mit Geschenken.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.12.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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