Claus Helge Godbersen

Der Advents-Instinkt

Ein Dezember-Gedanke für einsame Herzen, schwarze Seelen und Solche, die es werden wollen.


Hoppla, schon wieder der erste Advent! Wie konnte das denn passieren? Was, in drei Teufelsnamen... Verzeihung, ich meine... was, um Himmels Willen, habe ich denn das ganze letzte Kirchenjahr gemacht?!
Advent, Advent, ein Lichtlein brennt, als wäre es nie verloschen. Wieder flammen überall in der Nachbarschaft die Stimmungsleuchter auf, glimmen in den Bäumen und Sträuchern kleine, wetterfeste Glühbirnen, demonstrieren Plastikweihnachtsmänner an den Fassaden der Einfamilienhäuser anschaulich, was das Wort „Herumhängen“ bedeutet. Und wenn besonders romantische Gemüter erst richtig schweres Geschütz auffahren und ihr Grundstück in ein gleißendes Inferno aus elektrischen Rentierschlitten, Sternen und Schneemännern verwandeln, dann gerät die nächste Straßenlaterne schon mal ins Flackern.
Advent, Advent, der Rachen brennt. Diesen Brand löscht man erfahrungs- und traditionsgemäß am Besten mit Mandarinen, Keksen und Glühwein. Oder resultiert der Brand gerade aus dem saisonalen Überkonsum dieser Dinge? Egal, jedenfalls sind die Innenstädte voller Punschhütten und jedermann/frau langt kräftig zu. Und nebenan finden sich praktischerweise gleich die Stände voll skandinavischer Wollpullover, Erzgebirge-Schnitzereien und friesischer Keramik – dem weihnachtlichen Shopping-Erlebnis mit der Familie steht nichts mehr im Wege.
Auch die Wohnzimmer, Büros, Klassenzimmer und Küchen sind mit niedlichen Devotionalien und glitzernden Kleinigkeiten hin- und hergerichtet, und der Duft von Tannenzweigen und Kerzen durchzieht unsere Räumlichkeiten. Zeit für ein reichhaltiges Adventsfrühstück mit der Familie, für einen gemütlichen Feierabend-Tee oder -Kaffee mit einem Freund, für eine kleine betriebliche Weihnachtsfeier mit den Kollegen oder... hm... bleibt noch etwas? Was machen zum Beispiel arbeitslose Singles, die vorgestern von Scharbeutz nach Recklinghausen gezogen sind?
Naja, man kann es sich ja auch mal alleine weihnachtlich machen: Ein Becher Kakao mit Amaretto, eine Kerze, besinnliche Musik im Walkman und der Blick in den Sternenhimmel gerichtet – oder was auch immer der Einzelne tut, um sich in Weihnachtstimmung zu versetzen. Und wenn man dann so für sich unterm Firmament sitzt, immer neue Sterne entdeckend, träumend, dann – unter anderem dann – erwacht der Advents-Instinkt. Man ist – freiwillig oder unfreiwillig – allein und denkt sich: „Mönsch, so ist das doch auch ganz schön.“ Man genießt die Dezember-Traditionen und klammert den sozialen Weihnachts-Stress dabei aus. Ruhe und Frieden inmitten einer katastrophengeschüttelten Welt, Kerzenschein in der Dunkelheit und ein heißes Getränk in der Kälte. Aber was ist daran eigentlich weihnachtlich? WAS, frage ich Sie! Die Dunkelheit? Das sieht die traumatisierte alte Dame, der neulich im Dunklen die Handtasche entrissen wurde, wahrscheinlich anders. Die Kälte, in der ein obdachloser Alkoholiker sich in Moskau schlafen gelegt hat und nicht wieder aufgewacht ist? Und die Sterne, Herrschaftszeiten nochama’, können Sie sich auch im Juni angucken!
Aber so war es eben immer schon: Die Mutter bastelte liebevoll einen Adventskalender und backte Kekse. Der Vater nahm einen mit, um einen Weihnachtsbaum auszusuchen. Man ging mit den Freunden Laternelaufen, Oma kam zu besuch. Die Familie, die Lehrer, die Werbung... alle initiierten uns liebe Kleine in die Traditionen dieser segensreichen Jahreszeit. Dunkel und kalt war es wohl, aber was schert einen Dreikäsehoch das Wetter, wenn es in der Wohnung duftet, die Eltern so geheimnisvoll tun, EIN BAUM ins Zimmer gestellt wird?! Und dann das große Finale: Heilig Abend! Singen, Geschenke, leckeres Essen, lange Aufbleiben... hach!
Nach drei, vier Jahren hatte man allmählich raus, dass immer dann, wenn es kalt und dunkel wurde, der Zauber langsam seinen Lauf nahm. Da war dieser Nikolaus, den man so gerne einmal live gesehen hätte, aber immer fand man nur morgens ein Zeichen seiner Güte. Und der Weihnachtsmann? Und das Christkind? Nie bekam man sie zu Gesicht, aber Beweise für ihre Existenz waren überall. Vielleicht würde man es ja nächstes Jahr, wenn es kalt und dunkel wird, endlich rauskriegen...
Man kriegte es tatsächlich raus: Christkind, Weihnachtsmann und ihr ganzer übernatürlicher Verein waren bloß Mama und Papa und der Rest der Familie. Und so lieb man seine Lieben auch nach wie vor hat – der Zauber zog sich von Jahr zu Jahr mehr zurück, bis schließlich nichts mehr geblieben war außer Kälte und Dunkelheit. Weder das Licht all des elektrischen Fensterschmucks, noch die Wärme des Punsches erreicht unser Herz. Was uns im Inneren ein bisschen erfreut, das ist die Erinnerung an die verloschene Weihnachts-Magie und der letzte Funken Hoffnung, sie könnte zurückkehren. Solange sie das nicht tut, tun wir jedes Jahr, was unser Advents-Instinkt, dieses Relikt aus Kindheitstagen, vorschreibt und... nun ja: „Same procedure as last year, Miss Sophie? – Same procedure as EVERY year, James!”
Wem diese Gedanken bitter oder gekünstelt vorkommen, der frage sich nur einmal, warum man sich über einen Nadelbaum im Zimmer freut. Kein normaler Mensch würde sich im Juni einen ausgewachsenen Sommerflieder ins Haus stellen. Warum also eine Nordmanntanne im Dezember?? Ganz einfach: Sie ist mit positiven Assoziationen so überladen wie die Autos auf der Polen-Berlin-Autobahn mit unverzollten Zigaretten. Aber kein Weihnachtsbaum und auch kein Adventskranz wird die alte Freude wiederholen – und wenn er noch so nadelt.
Und wenn man sich einbildet, man könnte auch allein in Weihnachtsstimmung kommen, wohlan, so sei es. Aber tatsächlich ist das nichts anderes als halb wehmütige, halb fröhliche Erinnerung an die Zeiten, als Mami die Beste und Papi der Größte war und um einen herum ständig Wunder geschahen. Wenn man zur Weihnachtszeit mal ein besonders schönes Erlebnis hat, eine Liebesgeschichte oder Ähnliches, dann verdoppelt sich der Effekt gewissermaßen. Da man sowieso auf der Suche nach etwas Besonderem ist, und dann tatsächliche etwas Besonderes findet, glaubt man wahrscheinlich, die romantische Freude habe etwas mit Weihnachten zu tun.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich bin kein Weihnachts-Gegner. Jedoch sollte man sich darüber im Klaren sein, dass die Dezember-Schwärmerei nichts weiter ist als ein sozial antrainierter Ausschlag in unserer Stimmungskurve. Man erwirbt mit dem Entzünden der ersten von vier Kerzen, mit dem Öffnen des ersten von vierundzwanzig Türchen keine Sonderberechtigung für einen schönen Monat. Alles, was man tut, ist, das Startsignal für eine Zeit zu geben, in der man verdammt noch mal glücklich und gemütlich zu sein hat; und wenn das nicht klappt, fragt man sich, ob man irgend etwas falsch macht. Aber man macht nichts falsch; der Grund ist folgender: Weihnachten macht nicht glücklich!
Wenn es einem gut geht, dann freut man sich eben auf ein bisschen Zeit für sich allein oder für die Familie, die man sich sowieso schon längst hätte nehmen sollen. Und wenn es einem schlecht geht, dann wird deutlich, wie unbedeutend der ganze Weihnachts-Klimbim im Grunde ist. Nein, der goldene Nippes-Engel, der sich jedes Jahr auf Ihrem Schrank die Wangen wundtrompetet, wird Sie nicht segnen! Er wird weder den Sohn aus Afghanistan zurückbringen, noch die Steuern zahlen und er hat auch nie gesagt, dass er es tun würde. Man sollte also nicht Gott verfluchen, wenn er sich mal wieder nicht zeigt, obwohl man doch so viele Lichter angemacht hat.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.12.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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