Ralf Brandt

Am Weihnachtsmorgen

Berlin, Weihnachten.
Wieder sitzt der kleine Edward vor der großen Pyramide im Saal. Ganz leise summt er vor sich hin. Er betrachtet die Kerzen, sieht, wie sich die Pyramide langsam dreht. Wieder und wieder zieht das Christkind in seiner Wiege an ihm vorbei, Maria und Joseph folgen ihm eilig.
Eine Etage höher liefern sich vier Kamele ein apokalyptisches Rennen, bei dem niemand je zum Sieger werden kann. Das kleine Kamel ist genauso schnell wie die anderen, obwohl ihm schon ein Bein fehlt.
Und ganz oben stehen starr drei Engel, die hölzernen Flügel steif nach oben gerichtet, die dreifingrigen Hände zum Gebet gefaltet, die schwarz gemalten, zahnlosen Münder zum Gesang geöffnet. Rote Augen blicken Edward von den Engeln an, die Nase durch zwei kleine Pünktchen simuliert.
Nur die Kerzen erhellen den Raum, bilden einen lichten Kreis auf dem Boden. Und an der Decke zaubert die sich drehende Pyramide ein merkwürdig verschwommenes Muster von ineinander übergehenden Windrädern. Sonst ist alles dunkel und still, nur das leise Summen des Kindes ist zu hören und das zurückhaltende Rauschen der Gasheizung.

Es ist Heilig Abend, 3 Uhr 40, niemand sonst ist auf den Beinen. Edward schaut sich in dem großen Saal um. Ganz hinten in der Ecke steht der Baum. Natürlich ist es kein echter Baum, der brennt zu schnell, aber immerhin gibt es dieses Jahr einen. Er hat ihn zusammen mit einigen anderen Kindern mit vielen roten und blauen Kugeln behangen, aus Stroh haben sie bereits zum ersten Advent Sterne und Engel gebastelt, auch die zieren jetzt die Äste. Eine elektrische Lichterkette wurde rund um den Baum geschwungen, vier Lichter brennen nicht mehr, aber wenn man den Stecker in die Dose steckt, ist es trotzdem wie Weihnachten.

Es ist sein erstes Weihnachtsfest in diesem Heim. Noch im letzten Jahr hatte er mit seinem Bruder, seiner Mutter und seinem Vater zusammen den Baum geschmückt, Lieder gesungen und Geschenke ausgepackt. Im festlich geschmückten Wohnzimmer hatten sie eine CD mit Weihnachtsliedern aufgelegt und sich die große Gans schmecken lassen, die Mutter so zubereitet hatte, wie nur sie es konnte. Und am Abend, als es Zeit war ins Bett zu gehen, hatte der Vater ihnen das Märchen von der Weihnachtsgans Auguste erzählt. Edward erinnerte sich, wie er dann noch lange wachlag, er konnte nicht einschlafen, dachte immer noch an den Weihnachtsmann, der so groß und dick aussah, aber ihm Geschenke und Süßes gebracht hatte. Er fragte sich, wie das der Weihnachtsmann denn schaffte, wenn er sich für alle Kinder so viel Zeit nimmt.

Doch in diesem Jahr ist alles anders. Seine Eltern sind tot, sein Bruder auch. Kurz nach Neujahr gab es eine furchtbare Explosion, als die Gasleitung im Haus seiner Eltern barst. Er war zu dieser Zeit gerade bei seiner Großmutter, sonst wäre er heute wohl auch nicht mehr da.
Seit diesem Tag hat Edward nicht ein Wort mehr gesprochen, er hat keine neuen Freunde gefunden, lebt in sich zurückgezogen und allein.

Eine Träne sucht sich leise ihren Weg über seine Wange, rollt über sein Kinn und fällt auf den gelben Boden des Speisesaals. Als die Träne aufkommt, beginnen auf einmal die Figuren der Pyramide zu leben:
Das Christkind in der Wiege weint, Maria und Joseph kümmern sich um ihn, die Kamele bewegen die Beine, rennen, auch das Kleine mit dem fehlenden Bein. Die Engel schlagen mit den Flügeln, bewegen ihre Münder zur schönsten Melodie, die Edward jemals gehört hatte. Und aus dem kleinen Schein der Kerzen wird ein helles Licht von einem Glanz, der Edward völlig in seinen Bann zieht.
Er fühlt, wie sich seine Beine langsam vom Boden heben, eben saß er noch vor der Pyramide, jetzt fliegt er mit den Engeln über die Tische, sieht den Weihnachtsbaum, der jetzt genauso strahlt, er fliegt mit den Engeln durch das geschlossene Fenster hinaus in die Welt, und obwohl er nur seinen Schlafanzug anhat, ist ihm nicht kalt. Es sieht von oben, wie geschmückt die Stadt ist, er sieht in viele Fenster, erblickt viele Bäume und Bögen.

Immer weiter geht die Reise weit über den Dächern. Und auf einmal sieht Edward, wie ein großer Blitz am Himmel hin und her flitzt. Der Blitz kommt auf ihn zu, hält kurz vor seinem Gesicht an.
Es ist der Weihnachtsmann. Er sitzt auf seinem Schlitten, die Rentiere blicken freundlich zu ihm hin. Der Weihnachtsmann hat viele Schneekristalle in seinem silbrig glänzenden Bart, er hat pechschwarze Augen, in denen ein warmes, durchdringendes Feuer brennt. Er winkt Edward einmal kurz zu, blickt ihm tief in die Augen und ist plötzlich wieder weg, so schnell, wie er gekommen war. Nur das Feuer, das in den Augen des Weihnachtsmannes brannte, ist geblieben und erwärmt sogleich sein Herz.
Die Engel geleiten Edward zurück ins Heim, noch immer singen sie und schlagen mit ihren Flügeln im Takt ihres Liedes...

Am nächsten Morgen öffnet sich die Tür und die Köchin kommt herein. Was hat sie sich erschreckt als sie Edward auf dem Boden des Saales liegen sah, schlafend und einen Engel der Pyramide abgebrochen in seinen Armen haltend. Sie ruft eine der Erzieherinnen, die an diesem Morgen Dienst haben, diese weckt Edward, sieht ihn an.
Edward sieht zurück, er fühlt noch immer das Feuer in seinem Herzen flackern, es gibt ihm Kraft und er hat Lust zu leben.

“Guten Morgen und frohe Weihnachten!!“ ruft er so laut er kann und rennt lachend aus dem Saal, um sich zu waschen.

Die Erzieherin und die Köchin sehen sich verdutzt an, beginnen zu lächeln und brechen auf einmal in ein fröhliches Lachen aus.

Edward hat nie etwas zu jemandem gesagt über seine Erlebnisse in der Nacht, aber das Feuer brennt noch heute in seiner Brust und er gibt jedem, der es haben möchte, ein Stück davon ab.

Ich gestehe - es ist furchtbar kitschig ;-) Aber genau das mag ich an der Geschichte, die ist wirklich an einem total heimeligen Vorweihnachtsabend entstanden...und soll auch keinen Jota mehr sein als einfach ein kleines Märchen :-)Ralf Brandt, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.12.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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