Gerda Schmidt

Weihnachten in 1001 Nacht

Alle Kinder und Erwachsenen des Dorfes saßen andächtig lauschend um den runden Brunnen, im Schatten der großen Palmen. Durch das Palasttor wehte ein sanfter Wind, der die Palmwedel leise rauschen ließ. Süßer Duft von Zimt und Koriander verführte die Sinne und über dem Platz lag ein Hauch von Sehnsucht.

Abdel Jamals Stimme drang tief und doch geschmeidig in jedes Ohr. Nicht allein mit seinen Geschichten verstand er es, seine Zuhörer in eine andere Welt zu entführen. Meist erhöhte er die Aufmerksamkeit seiner Bewunderer, indem er die Stimme vertrauensvoll senkte, um dann in der spannungsgeladenen Atmosphäre mit donnerndem Gepolter den unerwarteten Höhepunkt zu setzen. Niemals wiederholte oder ähnelte sich eine seiner Geschichte, denn sie lebten im Land von Tausendundeine Nacht.

 

Nur die kleine Aisha wanderte mit ihren Gedanken in ferne Lande. Sie hatte von einem Jungen der angekommenen Kamelkarawane gehört, es gäbe ein Land, in dem die Mädchen so helle Haare tragen, wie der Mond leuchtet. Außerdem würde sich das Land am Ende des Jahres über Nacht in eine weiße Landschaft verwandeln. Die Lieblingsspiele der Kinder bestünden darin, mit einem Schlitten über den Schnee zu gleiten und auf Eisseen herumzukurven. Zudem bekämen in jener Zeit alle Kinder Geschenke, und jedes hätte noch mehr schöne Wünsche, die von einem kleinen Baby erfüllt wurden. Außerdem freuten sie sich über drei weise Männer, die von weit her mit den Kamelen gekommen waren, um dem Kind königliche Geschenke zu bringen. Ob es dort wohl Sandstürme gab, die das ganze Land unter feinem Saharasand erstickten? Diesem Sand, der so weh tat, wenn er direkt ins Gesicht peitschte. Man konnte die Türen und Fenster so gut es ging verbarickadieren, um sich vor ihm zu schützen. Zu gerne hätte Aisha gewusst, ob es dieses Land überhaupt gab, wo es sich befand und wie so ein Schlitten aussah.

 

Abdel Jamal hatte die Gabe, sofort zu erkennen, wenn seine Zuhörer unaufmerksam wurden und ihm in Gedanken nicht mehr folgten. Er war es nicht gewöhnt, dass man anderen Dingen als seinen Geschichten den Vorrang gab, denn er verzauberte sogar Tiere mit seinen Erzählungen. Schnell erfasste er Aisha´s Träume und nun konnte er seine wahre Kunst unter Beweis stellen.

 

„... und das Mädchen Aisha nahm die Einladung des Teppichs zögernd an. Unsicher setzte sie sich in die Mitte des roten Kelims, den ein Muster aus roten und goldenen Blumen zierte.

„Wir fliegen jetzt zu den Bergen, die so hoch sind, dass sie fast den Himmel berühren. Im weißen Winterzauber gleiten wir mit dem Weihnachtsschlitten durch den weichen Pulverschnee, bis ganz hinab ins Tal zu den zugefrorenen Seen ...“

 

Sofort war Aisha´s Aufmerksamkeit wieder ganz bei der Geschichte des Erzählers. Abdel Jamal‘s Augen fesselten das Mädchen, und entführten es in ein fremdes Land.

„... eine vorbeihuschende Windböe wirbelte Aisha die kalten Schneekristalle so heftig ins Gesicht, dass es schmerzte. Mit immensem Tempo rutschte der Schlitten samt seinen Gästen auf dem Schnee bergab. Unten im Tal ging die Reise weiter, am Ufer eines Eissees entlang. Viele Kinder tummelten sich auf dem der gefrorenen Oberfläche des Sees. Andere wiederum tanzten um einen bunt geschmückten Tannenbaum, unter dem eine kleine Krippe stand. Darin lag das Christkind.

„Wer ist dieses Kind?“ fragte Aisha eines der Mädchen, das gerade seinen Wunschzettel neben die Krippe legte.

„Bist du dumm? Das ist das Christkind, das alle Wünsche erfüllen kann.“ Geringschätzig sah das Mädchen mit den langen, blonden Zöpfen Aisha an.

„Und warum tut es das?“ fragte Aisha mutig weiter.

„Weil es Weihnachten ist und das Christkind Geburtstag hat. Und wenn der Abendstern zu leuchten beginnt, kommt der Weihnachtsmann mit seinem großen Schlitten durch die Luft geflogen. Er verteilt dann die Geschenke auf der ganzen Welt.“ Belehrend malte der Blondschopf mit beiden, weit ausholenden Armen, einen riesigen Erdball für das dunkelhaarige Kind aus dem Orient in die Luft, und unterstrich so die Bedeutung dieses Festes. Aisha betrachtete das Kind in der Krippe, dass ein Lächeln auf den Lippen trug. Konnte so ein winziges Wesen überall auf der Welt gleichzeitig Geschenke verteilen? Sie wunderte sich auch, dass das Kind nicht fror, wo doch diese seltsamen Palmen Nadeln trugen, die bis auf den Boden reichten.

 

Als Aisha wieder zu ihrem Teppich ging und darauf Platz nahm, schaute ihr das Mädchen aus dem fernen Land mit großen Augen hinterher. Elegant schwebte der Kelim Richtung Dorfmitte. Alle Häuser waren von Schnee bedeckt und aus ihren Kaminen stieg dunkler Rauch in die kalte Winterluft. Vor einer Bäckerei hielt der Teppich an. Aisha verliess ihr Gefährt und schaute neugierig durch die Schaufensterscheibe. In der Auslage gabe es bunte Kuchen und Süssigkeiten zu sehen. Ein Lebkuchenhaus war von unten bis oben mit Zuckerguss garniert. Daneben lagen Gewürzbrote und Zuckerstangen. Alles sah sehr einladend aus. Ein Junge öffnete die Ladentür und rannte mit einer Tüte voll Schokolade und Zuckerbroten heraus. Dabei verströmte die Backstube himmlische Gerüche von Zimt und Pfeffer, Koriander und Ingwer. Auch der Geuch von Muskat und Nelken fehlte nicht.

 

Aisha wusste nun, was Weihnachten war. Es war dasselbe Fest, dass sie im neunten Monat des Mondes zu Hause im Orient feierten. Die Kamele schaukelten dann mit dem duftenden Harz des Balsambaumes über die Weihrauchstraße, und wenn die Zeit des Ramadan vorüber war, und die Nacht entschwand, wartete man, bis der Morgenstern am frühen Himmel leuchtete. Dann war Bairam, das große Fest, mit dem die Fastenzeit beendet wurde. An diesem Zuckerfest feierten die Familien auch mit üppigen Speisen und alle Menschen freuten sich.“

 

Aisha war fasziniert von dieser Geschichte. Das kleine Christuskind, das so versonnen lächelte, hatte ihr Herz berührt. Gab es außer Allah, dem Allmächtigen noch jemanden, der Herr über alle Güte war?

 

Nun begaben sich alle Zuhörer auf den Weg nach Hause. Nur Aisha saß noch alleine unter der Palme. Mittlerweile war die Sonne langsam untergegangen und der Mond zeichnete kleine Spuren in den Sand, der schnell abgekühlt war. Da trat Abdel Jamal zu ihr und fragte sie, warum sie noch hier sitze. Er machte sich Sorgen darüber, ob er dem hübschen Mädchen die andere Religion nahe gebracht hatte und eventuell Ärger mit dessen Eltern bekommen würde. Deshalb erklärte er ihr sofort.

„Allah ist groß und mächtig. Vergiss alles andere. Das war nur ein Märchen und hat nichts zu bedeuten.“

Dann standen sie gemeinsam auf und er schickte das Kind nach Hause. Aisha nickte und ging. Doch als er sie nicht mehr sehen konnte, zog sie den kleinen Tannenzweig, an dem ein silbernes Kreuz hing, aus der Tasche.


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Das ist eine taz-Wettbewerbsgeschichte. Zeichenlimit 4500. Es hat Spass gemacht sie zu schreibenGerda Schmidt, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.12.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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