Eva Markert

Ein Weihnachtspuzzle

Zuerst spürte er nur den hämmernden Schmerz. Träge trieb er an die Oberfläche des stillen schwarzen Sees. Er öffnete mühsam die Augen. Es war dunkel. Starker Wind wehte Regentropfen in sein Gesicht. Er fror.

        Angestrengt dachte er nach. Er lag hart. Wieso? Wie war er hierhin gekommen? Der Schmerz in seinem Kopf riss die Gedanken in Fetzen.

        Von fern durchdrang ein Geräusch seine wattigen Empfindungen. Er versuchte sich zu konzentrieren. Das war nicht der böige Wind. Jetzt begriff er: Er hörte ein Martinshorn. Das Geheul kam näher. Ganz plötzlich brach es ab. Aus irgendeinem Grunde war ihm klar, dass ihn dieses Martinshorn etwas anging. Jetzt fiel es ihm ein: Jemand war tot.

        Es gelang ihm nicht aufzustehen. Ein Strudel drohte ihn jedes Mal in den schwarzen See hinabzureißen. Doch er durfte nicht nachgeben, musste sich kümmern. Schließlich war er der Besitzer des Kaufhauses.

        Noch kurz ausruhen, ein bisschen zu Kräften kommen. Vorsichtig streckte er sich auf dem nassen Asphalt aus. Vor seinem geistigen Auge schwammen undeutliche Bilder und lösten sich wieder auf.

Tannenbäume, elektrische Kerzen, Girlanden, Kugeln und blinkende Sterne. Kunden, die sich durch enge Gänge zwängen. Kein Durchkommen. Weihnachtsmusik in der stickigen Luft, die wie eine Glocke über den Menschen hängt.

Weil das Kaufhaus immer noch keine Klimaanlage hatte.

        Und Weihnachtsmänner. Auf jeder Etage fünf. Fast werden sie in der Menge erdrückt. Ihre leuchtendroten Mäntel und Mützen, die seidig gelockten weißen Haare und Kunststoffbärte, die ihre Gesichter fast unkenntlich machen, und Säcke gefüllt mit kleinen Geschenken für die Kinder.

Ein großer Erfolg. Der Umsatz deutlich höher als in den Jahren zuvor. Das war seine Idee gewesen. Sein Bruder wollte nicht. Er war nie mit irgendetwas einverstanden. Zu unbeweglich. Rückständig.

        Er riss seine Augen auf. Plötzlich wusste er es wieder: Der Tote, das war ja er, sein älterer Bruder! Das altmodische Kaufhaus gehörte jetzt ihm allein. Endlich konnte er nach Herzenslust schalten und walten, er konnte aufstocken, umgestalten, modernisieren, all seine Ideen umsetzen, ohne Rücksicht nehmen zu müssen. Keine endlosen Auseinandersetzungen mehr. Und er würde erfolgreich sein! Wohlhabend – vielleicht sogar reich!

        Er fühlte sich etwas kräftiger und setzte sich auf. Der Wind war so stark, dass er sich beinahe dagegen lehnen konnte. Warum nur befand er sich im Hof auf der Rückseite seines Kaufhauses?

Ein Weihnachtsmann im Gedränge. Einer von vielen. In der Tasche seines tiefroten Mantels ist ein schmales, scharfes Messer verborgen. Niemand sieht, wie eine weißbehandschuhte Hand es blitzschnell herauszieht und einem Mann in den Rücken stößt. In dem allgemeinen Durcheinander bemerkt auch niemand den Weihnachtsmann, der sich eilig seinen Weg durch die Menge bahnt und im Treppenhaus verschwindet.

        Endlich gelang es ihm, seine schweren Lider offen zu halten. Das Bild vor seinen Augen klärte sich. Er trug einen durchweichten roten Mantel. Seine Perücke und der Bart unter seinem Kinn waren schwer von Nässe. Die Mütze hatte er irgendwann, irgendwo verloren. Seine weißbehandschuhte Hand tastete sich in die Tiefen des Mantels vor. Das Messer war da.

        Vorsichtig blickte er sich um. Keine Menschenseele war zu sehen. Noch hatte ihn niemand bemerkt. Er konnte nicht länger auf dem Boden sitzen bleiben. Niemand durfte ihn in seiner Verkleidung finden! Warum hatte er das Kostüm nicht wie geplant in seinem Büro im obersten Stock ausgezogen und gewartet, bis man ihn holte?

Nun fiel es ihm wieder ein: die Sekretärin.

Sonst ist sie um diese Zeit schon lange fort. Er will das Sekretariat aufschließen, bemerkt im letzten Augenblick den Lichtschein, hört, wie sie am Telefon mit jemandem spricht. Schnell läuft er zum Büro seines Bruders, aber die Tür ist abgeschlossen. Schritte nähern sich. Er muss verschwinden, sofort. Er hastet den Gang entlang zum Fenster.

Das war das Letzte, woran er sich erinnern konnte.

        Er nahm all seine Kraft zusammen und stand auf. Doch er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Der Sturm hätte ihn beinahe umgeweht. Seine Finger suchten Halt. Er umklammerte die nasse, glitschige Sprosse einer Feuerleiter. Schwindel erfasste ihn, als er seinen Kopf in den Nacken legte und nach oben blickte. Die Feuerleiter endete an einem geöffneten Fenster auf der obersten Etage.

        Plötzlich hörte er Stimmen. Sie kamen von oben. Das Fenster im vierten Stock war erleuchtet. Undeutlich sah er, wie sich Menschen hinauslehnten. „Hallo!“, rief jemand. „Sind Sie das, Herr Gruber?“

        Er wollte die Feuerleiter loslassen, auf der er sich im Sturm und Regen nicht hatte halten können. Er wollte fortlaufen, aber es war unmöglich. Stöhnend sank er in sich zusammen.

Kurz darauf waren sie bei ihm. Bevor es schwarz um ihn wurde, hörte er wieder das durchdringende Geheul eines Martinshorns.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.12.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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