Georg Grabmaier

Das Mädchen und die Katze

Das Mädchen irrte verwirrt und entgeistert durch die dunklen, kalten Straßen der Stadt. Ihre Blick tastete aufmerksam die Umgebung ab. Er klebte geradezu an jeder kleinen Bewegung, die sie erhaschen konnte. Große, leicht schillernde Schneeflocken breiteten sich auf ihrem Mantel auf, der schon alt war und ihren warmen, weichen Körper nicht mehr so gut gegen die klirrende Kälte schützen konnte. Sie erblickte nichts, nur den trüben Raum, der sich vor ihr erstreckte. Sie schaute weiterhin in das ringsum herrschende Grau, aber das, was sie suchten war nur noch in ihrer Erinnerung.
Es ist eine, lebendige, überströmende, liebevolle Erinnerung. Sie sah durch ein Fenster. Das gleißende Licht blendete sie, weil sie schon den ganzen Tag durch diese dunklen, trostlosen Gassen irrte. Sie hörte wie mehrere Menschen Stille Nacht sangen. Sie roch den Geruch der aus diesem Fenster strömte, es roch nach Frieden und Harmonie. Sie konnte fühlen wie glücklich die Menschen hinter diesem Fenster waren. Sie dagegen fühlte nur ihre Ohnmacht und diese verzehrende Traurigkeit. Gerade heute, wo alle Menschen feierten und glücklich strahlten, wachte sie auf und ihr Kater, ihr einziger Freund, den sie hatte war nicht mehr da, er war wie verschluckt von dieser sie so grauenvoll umklammernden Dunkelheit. Erinnerungen wühlten wieder in ihrem Kopf herum. Sie schreckte auf und sah wie in der Ferne ein Hund die Straße überquerte. Sie konnte in ihrer Erinnerung noch das warme, weiche Fell ihres Katers spüren. Er war ein besonderer Kater, den er konnte direkt in ihr Herz blicken, ihre Gefühle erahnen. Wenn sie traurig war, kam er angerannt und tröstete sie, indem er sich an sie schmiegte und sein Schnurren sie beruhigte und tröstete.
Das Band, das die Katze und das Mädchen verband, war reine, tiefe Liebe, die nur selten zwischen einem Tier und einem Menschen erfahren wurde. Es war eine Liebe jenseits von Worten, jenseits aller Vorstellungen, die man haben konnte. Für sie war dieser Kater mehr als nur ein Tier, er war eine verwandte Seele, ein Seelengefährte, der mit ihrem Herzen verwoben war. Manchmal träumte sie von ihrem Kater und als sie dann aus diesem Träumen gerissen wurde, wußte sie plötzlich Dinge, die sie sich ständig fragte.
So hatte sie einmal ihr Büchlein verlegte und konnte es nirgends finden. Am nächsten Morgen wußte sie plötzlich, wo es war. Gerade in dieser Nacht hatte sie wieder einen Traum von ihrem Kater. Er zeigte ihr, wo das Büchlein sich vor ihr verbarg. Es war in einem Spalt zwischen Wand und Kasten. Jubelnd zog sie dann das Büchlein hervor und wußte, wem sie es zu verdanken hatte, dass sie es gefunden hatte. Dieser Kater war ihr Engel, der sie schützte und tröstete. Er hatte auch den Namen eines Engels. Er hieß Raphael. Er hatte ein schwarz, weißes Fell und wunderschöne, große Augen, in denen soviel Mitgefühl lagen.
Die Finsternis der Nacht brach mit ungewohnter Schnelligkeit herein. Plötzlich war es ringsum finster, nur der Schnee glitzerte und funkelte, als hätte er das Licht tagsüber eingesogen und gäbe es jetzt von sich.
Sie hatte schon viele Leute gefragt, ob sie eine Katze gesehen hätten. Einer hatte gesagt, dass er eine tot gefunden hätte, von einem Auto überfahren. Da brach das Mädchen in Tränen aus und ein Meer von Traurigkeit senkte sich über sie. Sie fühlte, dass sie nicht aufhören durfte zu suchen. Sie hatte auch schon im Tierheim gefragt und Plakate aufgehängt, auf denen sie in kindlich naiver Weise ihren Raphael gezeichnet hat. Aber es war wohl alles umsonst gewesen. Alle waren damit beschäftigt, Geschenke einzumachen oder die Weihnachtsgans zu braten.
Sie lief in der Dunkelheit umher und rief den Namen ihres Katers. Sie merkte wie ihre Beine schwer und leblos wurden. Müdigkeit umklammerte ihren kleinen, zerbrechlichen Körper. Sie suchte sich ein Plätzchen, wo sie sich ein bißchen ausruhen konnte. Vielleicht konnte sie am Bahnhof schlafen, wo ja auch viele obdachlose Menschen Zuflucht suchten.
Aber da fiel ihr ein, dass es ja zu Weihnachten ein Haus gab, wo man schlafen konnte und etwas zu essen bekam.
Sie rannte los und hörte nicht auf zu laufen bis sie dort war. Viele ältere Menschen waren dort und hatten verzerrte, von der Kälte aufgefressene Gesichter. Eine Frau kam auf sie zu und fragte sie, woher sie käme und warum sie keine Eltern habe.
"Meine Eltern sind zu Hause, aber ich werde so lang nicht nach Hause gehen bis ich meine Katze wiedergefunden habe", erwiderte sie schluchzend. "Wo hast du denn deine Katze verloren?", fragte die Frau vom Mitleid ergriffen. Das Mädchen schüttelte nur den Kopf. "Wie heißt du denn?", wollte die Frau wissen. "Ich heiße Claudia". "Komm ruh dich ein bißchen aus". Die Frau zeigte auf ein Bett, das noch frei war. Das Mädchen legte sich hinein. Die Frau deckte das Mädchen liebevoll zu und es schlief sofort ein.
Kaum war sie eingeschlafen, umfing sie ein seltsamer Traum. Sie hatte seltsame Flügel aus Geschenkspapier und ihre Hände waren ganz hell und leuchteten seltsam. Sie lief über eine Brücke und aus dem Fluß schauten sonderbare Fische zu ihr hoch, die ihr was zurufen wollten. In der Ferne zerstob eine Kugel und hüllte die Landschaft in ein wunderbar strahlendes Licht, das von den Händen des Mädchen auf magische Weise angezogen wurde. Plötzlich wurde alles dunkle und sie hörte ein Wimmern und Winseln. Eine finster graue Statue näherte sich ihr. Sie spürte wie die Erde bebte durch den Aufprall des Gewichts der Statue. Ein paar schwarze Vögel flattert aufgeregt umher. Ein blaues Schild ragte aus der Erde und dieses Wimmern wurde immer lauter. Plötzlich riß es sie aus dem Traum und ihr Körper bebte und zitterte. Sie stieg aus dem Bett, warf der Frau, die sie so liebevoll zudeckt hatte einen flüchtigen Blick zu und verließ das Haus. Draußen war es ganz still und sie blickte hoch zu den Sternen, die sie sehen konnte, weil sich der Schleier am Himmel verflüchtigt hatte. Plötzlich hatte sie das Gefühl marschieren zu müssen, selbst wenn sie von allen anderen ausgelacht wurde, oder sie kein Recht dazu hatte, wußte sie mußte sich aufmachen, um dieses Beben in ihrem Körper beruhigen zu können. Ihre Eltern würden sich zu Hause sicher viele Sorgen machen um sie, aber an das konnte sie jetzt nicht denken, weil es für sie nur einen Wunsch gab.
Sie faltete ihre Hände und begann zu beten. Aber niemand schien ihr Gebet zu hören, so jedenfalls kam es ihr vor. Die Kälte kroch unter ihrem Mantel hoch, als wär sie ein ekliger Wurm, der sich an ihrem Körper hochschlängelte.
Sie lief los, kopflos und voller Schmerz rannte sie, bis sie zu einem Park kam.
Sie setzte sich auf eine Bank und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Ein Vogel tapste vorbei. Er pickte Körner vom Boden auf. Sie hörte das Pfeifen des Windes, der die Kälte noch unerträglicher machte. Sie blickte auf und sah dem Vogel nach. Die Nacht hatte ihn ganz schwarzgemalt und er verschwand bald wieder in dieser Dunkelheit. Das Mädchen fragte sich, woher dieser Vogel käme. Hatte er keine Familie mit der er Weihnachten feiern konnte. Seltsame Gedanken jagten in ihrem Kopf umher. Da fiel er plötzlich etwas ein. Sie stand auf und blickte sich um, sie schien nach etwas zu suchen. In der Mitte des Platzes stand eine graue Statue, die mit ihrer Hand in eine Richtung zeigte und auch den Fuß in diese Richtung gestreckt hatte. Ein Zucken jagte ihr einen Schauder über den Rücken. Plötzlich wußte sie, warum sie diesen sonderbaren Traum hatte. Eine Mischung aus Aufregung und Faszination erfühlte sie.
Taumelnd vor Freude rief sie in die Richtung in der die Statue zeigte. Mit jedem Schritt kam ihr vor, als würde sie immer leichter und beschwingter werden, als würde tief in ihr ein Pferd galoppieren und tausend Sterne aufwühlen, die sie an allen Stellen ihres Körpers kitzelten und Licht und Lachen in ihr sich ausbreiten ließen. Das Licht der Sterne flutete die Wiese vor ihr, dass sie plötzlich sehen konnte. Die ganze Dunkelheit war verschwunden nur noch das Licht der Sterne war da, keine Dunkelheit, kein alles verschluckendes Grau mehr, nur noch Licht. Vor ihr sah sie etwas am Boden liegen, aber es war nur ein achtlos weggeworfenes Papiersackerl. Es trieb sie vorwärts, sie stolperte, aber sie fiel nicht. Nichts konnte sie jetzt mehr aufhalten. Sie hörte schon das Miauen und das Wimmern, das sich tief in ihre Ohren bohrte. Es wurde immer lauter und deutlicher. Da konnte sie schon einen Körper im Gras liegen sehen. Das geschmeidige Licht der Sterne umhüllte ihn sanft. Das Mädchen ließ sich neben die Katze in das Gras plumpsen. Sie wollte ihre Katze an sich drücken, doch Blut rann über ihre Hand. Ein Schrei erfüllte die Dunkelheit. Das Mädchen begann zu weinen und flüsterte immer und immer wieder: "Bitte stirb nicht Raphael, bitte stirb nicht!". Plötzlich fühlte sie wieder diese Wärme in ihren Händen. Sie legte die Hände auf die Wunde, die sich tief in das Fleisch gebohrt hatte. Diese Wärme in ihren Händen wurde immer stärker, plötzlich spürte sie wie ein magnetischer Strom durch ihre Hände zuckte und die Wunde immer kleiner wurde. Es quoll noch immer Blut aus der Wunde, aber es wurde immer weniger.
Das Mädchen kniete vor ihrem Kater und breitete beide Hände über ihn aus. Tränen rannen ihr übers Gesicht und tropften auf das Fell der Katze. Aber etwas in ihr war stark und mächtig, es hatte lang in ihr geschlafen, aber jetzt wurde es aufgeweckt und quoll aus ihrer Hand. Wie von Sinnen macht das Mädchen weiter, ihre Hände waren schon ganz warm. Die Katze röchelte kurz und ihre Augen verdrehten sich.
Plötzlich bewegte sich der zuvor leblose Körper. Er streckte sich und der Rücken wurde ganz stramm. Schluchzend nahm das Mädchen die Katze in den Arm und drückte sie ganz fest an sich. Nur der Schwanz baumelte zittrig nach unten. So ging das Mädchen mit ihrem Raphael nach Hause. Ihre Eltern warteten schon ungeduldig zu Hause und konnten ihre Freunde kaum verbergen, als das Mädchen wieder zu Hause war. Raphael lag unter dem Christbaum und schnurrte freundlich. Das Mädchen legte im noch öfters die Hände auf die Wunden und bald war der schöne Kater wieder gesund. Claudia hatte seit dieser Zeit nie mehr ihre Hände jemanden aufgelegt, aber sie wurde eine schöne, fröhliche Frau und träumte noch öfters von ihrem Seelenfreund, dem Raphael.
Ende.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.12.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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